Eine wahre Geschichte – Tannheim 1937

Draußen regnete es in Strömen.
Voll gespannter Aufmerksamkeit, saßen die Kinder um die
„Frau vom Haus“ herum.

Zum Teil auf der hölzernen Eckbank, halb auf dem Tisch, zum Teil auf dem Boden kniehend, hockend. Die Augen der Kinder hingen an ihrem Mund.

Vier eigene Buben, von Paulwebers fünf oder sechs, und ein kleiner, blonder Kerl von drei Jahren, der Willi.

Die Frau rief: „ Also noch einmal alle zusammen!“

Ein mal Händeklatschen, Ihr müsst es genau so machen wie ich, dann mit der rechten Hand an das linke Ohr fassen, mit der linken Hand, die Nase festhalten.

Dann wieder klatschen,
Seppl, doch nur einmal,
dann mit der linken Hand an das rechte Ohr fassen und mit der rechten die Nase, diesmal mit der rechten Hand, die Nase!

Noch einmal, ganz langsam, etwas schneller, und links und klatsch und..rechts und klatsch und… schneller, schneller, schneller……

Die Kinder versuchten zuerst, die Reihenfolge einzuhalten, langten sich dann aber mit beiden Händen an die Nasen, sich gegenseitig an die Ohren, es wurde ein heftiges Gefuchtel und ein herzhaftes Gekicher und Gelächter daraus.

Der Willi kugelte sich auf dem Boden, griff sich an die Füße und kommandierte .. und links und latsch und lechts…..und…..

„Noch einmal von vorn, die Frau musste schon zu Beginn des neuen Spieles lachen, denn die Buben machten absichtlich falsche Griffe.

Eine fröhliche Runde von Kindern, die sich glücklich fühlten, denn die „Frau vom Haus „ wie sie genannt wurde, konnte Märchen erzählen, vorlesen und auf die Kinder eingehen. Vor allem, sie hatte Zeit. Sie nahm sich Zeit.

Manche Leute haben immer Zeit, manche nie.

Die Nachbarn schickten die Kinder gern zu ihr, dort wussten sie ihren Nachwuchs gut aufgehoben, wenn man draußen im Feld zu arbeiten hatte.

Sie war mit vier Buben in das Dorf gekommen.

Von der Familie Leitner in Untergschwend bei Tannheim, hatte sie das Haus gemietet.

Beim Paulweber über dem Bach drüben, hatte man zu 7 eigenen Kindern auch noch den Willi aufgenommen.

Er stammte aus Südtirol und seine Eltern waren bei einem Zugunglück ums Leben gekommen.

„Jetzt alle wieder hinaus, der Regen hat aufgehört!“

Wir sprangen ins Freie, der Willi und ich, ließen die Großen fortrennen, denn wir hatten etwas besonderes vor.

Wenn immer es ging, schlichen wir uns davon, zu einem heimlichen Spiel, zum“ Bollen drehen“, wie wir es nannten.

Unter dem Stadel am Bach, der Untergschwend durchfließt, gab es Lehm.

Wir, die kleinsten konnten unter den Stadel kriechen und fanden dort Platz, aus dem Lehm Kugeln zu drehen und allerhand Fabelwesen zu modellieren.

So hatte meine Mutter, „die Frau vom Haus“ mir erzählt, als Jesus klein war, habe er aus Lehm Vögel geformt.

Dann hatte er gewartet, bis sich das Blau des Himmels in den Pfützen spiegelte, hatte das Blau mit den Fingern aus der Pfütze genommen und auf die Lehmvögel gestrichen, so dass schöne, runde, blaue Vögel um das Jesuskind herum, auf dem Boden saßen.

Andere Kinder versuchten auch, ihre Lehmtiere mit Himmelsblau zu färben, aber es gelang ihnen nicht.

Sie waren ja schließlich auch nicht das Jesuskind.
Aus Neid und Zorn, versuchten die Buben, die kleinen blauen Vögel zu zertreten.

Aber eh sie damit anfangen konnten, machte Jesus „husch“ und die kleinen, kugeligen, blauen Lehmvögel flogen davon.
Diese Geschichte beeindruckte mich sehr und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass ich auch, die Regenbogenfarben, die manchmal in moorigen Pfützen sich spiegelten, auf meine Lehmtiere streichen könnte.

Aber manche Geschichten bleiben halt immer ein Traum.

Ein Kater, Minkus mit Namen, gehörte zur Familie, er war irgendwann einmal zugelaufen. Er kümmerte sich um die Mäuse in dem alten Haus, und war ganz einfach bei der großen Kindergruppe geblieben, die ihn liebte und verhätschelte.

Alle waren, alle Tage beieinander und mit unendlich vielen, wichtigen Dingen beschäftigt. Immer liebevoll bewacht und betreut, von unserer an Phantasie und Ideen reichen Mutter.

Die Mädchen durften aus alten Stoffresten etwas zusammennähen, oder sie brachte ihnen die Anfänge der Kreuzstickerei bei.

Die Buben mussten Holzkugeln in ein Loch im Boden rollen, das irgendein Vorgänger in die alten, dicken Dielen hineingebohrt hatte, so eine Art Boccia, oder durften sich aus gebrauchten Schreibmaschinenrollen und Pappschachteln, Heuwagen basteln.

Auch eine Kuh gehörte zu uns.

Sie kam von dem Bauern Leitner, dem das Haus gehörte. Sie hatte sich einmal in der Tür geirrt und war in unseren Hausflur geraten.
Die Mutter versuchte sie mit der Feuerschaufel, der Ofen in der Stube wurde, wie in vielen alten Häusern vom Gang aus geheizt, wieder hinauszutreiben.

Rückwärts gelang das aber nicht, also versuchte die Kuh sich, in dem engen Gang, umzudrehen.

Vor lauter Aufregung ließ sie einen großen Kuhfladen an die gekalkte Wand fallen, der dann langsam hinunter sackte.

Das war die Lisa, die solcherart sich in unserem Hausflur verewigt hatte.
Man hat den Fleck abgewaschen und frisch geweißelt, aber immer wieder schimmerte es grün-braun aus der Wand.

Wir Kinder hatten unsere Freude daran. Oberhalb des Dorfes begannen die Wiesen, die im Frühsommer voller Heinzen standen. Bald darüber begannen die Alpwiesen, durchsetzt von Waldstücken, die weiter oben in Latschenfelder übergingen.

Die Winter waren hart und schneereich. 4-6 Pferde zogen einen großen Schneepflug durch das ganze Tal. Der weiße Atem aus den Nüstern der Rösser, wehte um die verschwitzten Leiber.

Männer standen auf dem hölzernen, aus Balken gezimmerten Räumgerät, um dem Pflug das nötige Gewicht zu geben, damit er nicht oben, über den Schnee hinweg glitt.

Die frisch geräumte Strasse war glatt, fast wie Eis. Den Zuweg nach Untergschwend mussten die Bauern selber freischaufeln.

Meter hoch türmte sich der Schnee links und rechts der Strasse. Nicht umsonst nennt man die Passhöhe vom Oberjoch noch heute die „Gähwinde“!

Dort mussten viele Schneeschaufeln ausrücken, um die angewehten Massen weg zu schaffen. Der Leitners Rudi war damals schon ein großer Bub, der uns das „Geisselschnellen“ beibrachte.

Das Heuen damals, verrichteten, aus meiner Sicht, viele, viele Frauen in langen Röcken, die über die Strohhüte Kopftücher gebunden hatten. Das sah für mich vierjährigen Stumpen recht komisch aus und ich weiß bis heute nicht warum die Frauen das machten.

Seit der Zeit weiß ich aber eins genau; dass richtige tiroler Bauern ein Hemd ohne Kragen, graue lange Hosen, Hosenträger aus Gummi, Holzschuhe mit Lederkappen tragen und einen Strohhut auf dem Kopf haben und kleinen Buben mit der Hand auf dem Kopf kraulen.

Der Gipfel des „Einstein“ ragte hinter dem Dorf empor, und noch lange, wenn es später hieß, wir malen Berge, dann malte ich zwei steile Türme, oben rund und dazwischen einen kleinen Zacken.

Es waren das die „Rote Flüh“ und der „Gimpel“ zwischen denen die Köllespitze heraus lugte. Unseren Vater hatten wir den ganzen Winter nicht gesehen. Aber im Mai, als die Wiesen voller Blumen standen, war er am Abend plötzlich aufgetaucht.

Im Schlafzimmer der Eltern hatte es lautes Reden und verhaltenes Weinen gegeben. Am Morgen kamen vier Männer mit grauen Mänteln und grauen Hüten.

Ein großes Auto stand vor dem Zaungatter.Zwei Ersatzräder waren rechts und links über den Kotflügeln angebracht. Es war ein langes, offenes Auto, wie man sie heute noch in Filmen, die im Dritten Reich spielen, sehen kann.

Es wird ein „Horch“ gewesen sein. Die Männer nahmen den Vater mit. Er hatte ein weißes Gesicht. Er steht in dem Auto und lüftet den schwarzen Hut.

Ein flacher, schwarzer Hut war es. Die Mutter hält sich am Zaun fest.
Vier Kinder schreien an ihr hinauf, hängen an ihrer, ich weiß es noch genau, gestreiften Schürze, an ihren Röcken.

Eine grau-weisse Staubwolke schwebt noch ewig lang über dem Weg nach Tannheim.

Die Mutter führt uns ins Haus.
Heute ist es still und erdrückend in dem Haus.
Man bringt den Vater nach Innsbruck, ins Gefängnis.

Es gab eine Busverbindung von Sonthofen nach Reutte.
Über das Joch, die Gacht, über die Brücke, die beim Rückzug der deutschen Truppen, gesprengt wurde.

Man sieht heute noch die Betonsockel. Von Reutte fuhr dann die Eisenbahn über Garmisch, Mittenwald, Hochzirl nach Innsbruck.

Unsere Mutter, die “Frau vom Haus“ lachte nicht mehr.

Einmal wollte sie ihren Mann besuchen. Wegen Widerstand gegen die damalige Politik war er eingesperrt.

Zwei ihrer Buben nahm sie mit. Die beiden „Kleinen“, wie man sie nannte.

Gustl und mich.

Grüne Filzhüte hatte man uns aufgesetzt, mit einem kleinen roten tiroler Adler, als Anstecknadel darauf. Wir waren stolz auf den Adler!

Noch heute ist der rote Adler, etwas besonderes für mich.

Und graue gestrickte Wollkittel hatten wir an, die kratzten am Hals. In Hochzirl sollten wir warten.
Unsere Mutter übergab uns der Obhut einer blonden Frau, die sie kannte.

Die nahm uns mit heim, gab uns einen Kuchen und schickte uns am Nachmittag dann, allein zum Bahnhof.
Kaum waren wir unterwegs, als schon irgendwo ein Zug pfiff und wir, 3 und 5 Jahre alt, der Gustl war ja schon so groß und selbständig, glaubten, das sei der Zug mit dem die Mutter kam.

Der Zug fuhr weg, als wir den Bahnhof erreichten.
Ich glaube nicht, dass ich in meinem Leben noch einmal so fassungslos gewesen bin.

Es war als wäre man ins Leere gelaufen.

Wir hingen am Geländer.

Wir hockten irgendwo auf einer Bank, verweint und erstarrt, wurden von Leuten angesprochen und warteten.

Ich erinnere mich an eine dumpfe, endlose Angst.

Ich blieb halt bei meinem großen Bruder.

Die Dämmerung kam, es wurde dunkel.

Der Schaffner, der uns hin und wieder zugenickt hatte, ging fort.

In unseren Stoff-Lederhosen, sie fühlten sich weich und samtig an, wurde es uns kalt.

Es muss aber Sommer gewesen sein, denn ich erinnere mich, dass im fahlen Schein einer Lampe zwischen den Gleisen Gras wuchs.

Kein Zug, kein Schaffner, keine Mutter.

Dann kam eine runde Bäuerin mit einer Milchbutte vorbei, vielleicht war sie auf dem Weg heim, von der Sennküche.

Sie redete mit dem Gustl und wir gingen mit ihr in ein Haus, wo es nach Geißen roch.
Das muss eine gute Frau gewesen sein. Sie gab uns heiße Milch.

Ich bin dann auf einem Kanapee eingeschlafen. Irgendwann kam unsere Mutter dann doch und weckte uns.

Sie hatte, wie man mir später erzählt hat, den ganzen Tag warten müssen, bis sie mit ihrem Mann sprechen durfte.

In dem Bewusstsein, dass sie ihre zwei kleinen Buben an einem fremden Ort allein gelassen hatte, hatte sie viele Vaterunser gebetet und alle Schutzengel um Beistand für uns gebeten.

Warum wir nicht zu der blonden Frau zurückgegangen waren!

Ich weiß es nicht.

Ich bin nie mehr gern allein auf einem Bahnhof gewesen.

Aber, wenn ich heute noch, eine Bäuerin sehe, weiß ich dass es Schutzengel gibt.

Den Vater haben wir viele Jahre nicht gesehen.

Briefe kamen, Feldpostbriefe, mit einer Hitlermarke drauf.

Wir zogen ins Allgäu.

Als der Krieg aus war, kam er zu uns, blieb ein paar Wochen und ging dann allein nach Norddeutschland.

Die frühere, starke Verbundenheit meiner Eltern hatte den Krieg nicht überstanden, war irgendwo zwischen Gefängnis, Fremde und Front verbrannt.

Baustelle 1968

Ich bin Betriebsmaurer in einer Allgäuer Firma.
Eine Halle ist gebaut worden. Die wird jetzt verputzt.
Einige Wochen haben wir zu tun. Mir hilft ein blonder, geschickter Mann, Schreiner ist er von Beruf.

Als wir einmal Brotzeit machen, erzählt er von seinen Buben. Da ich inzwischen auch Kinder habe, kommt, auch unter Männern manchmal ein Gespräch über die Familien zustande. Mein Kollege erzählt von einem Spiel, das er seinen Kindern beigebracht hat, so dass die ganze Familie, samt Opa und Oma gelacht hat, und dass es schon lange daheim nicht mehr so lustig gewesen ist.

E sagt: „einmal klatschen, linke Hand an rechtes Ohr, rechte Hand an die Nase,… klatschen,—- ich starre ihn an, der Mann fasst an sein Ohr.

„Bist du der Willi ?“

„Freili heiß i Willi ! Des waischt du doch !“

„Wo hoscht du des Spiel her ?“

„Des Spiel, a so, im Untergschwend, bei mir dahuim do war a

„Frau vom Haus“, „

„Willi, sei still, die Frau, des war ming Mueter!“

„Ja wia ?“

„Vor fünfundzwanzig Johr händ mir miteinand gschpielt unter dem Stadel im Luim !“ Vor 25 Johr händ mir deis Spiel gmacht!“

Aber der Willi der kennt mich nicht mehr, aber es war doch der kleine, blonde Kerl……. Es war der Willi, der inzwischen am Oberjoch lebt.

Sonthofen1989

Die Familie ist auseinander gezogen, jeder hat sich seine eigene Existenz aufgebaut, der Vater ist nicht wieder gekommen.

Man hörte, dass er nicht alleine blieb, seine zweite Frau gestorben war, und er danach achtzig jährig, eine dritte, junge Frau geheiratet hat.

Kurz vor Weihnachten starb unsere Mutter, nachdem sie sich noch über ein kleines blaues Stück Himmel gefreut hatte, das sie vom Krankenbett aus sehen konnte.

„Heut geht es mir schon so schön schlecht,“ hatte sie mir gesagt,

“ich hab es bald überstanden.“

Ein mutiges Wort von einer Todkranken.

Ihren Mann hatte sie 40 Jahre nicht mehr gesehen, und keinerlei Kontakt mit ihm gehabt.

Sie starben beide in der selben Nacht, zur selben Stunde, nach 40 Jahren, jeder allein, 1000 km voneinander entfernt, sie im Allgäu, er in Norddeutschland, und doch miteinander. Warum wohl? Zufall?

Sprechen sie jetzt wieder miteinander ?