Eine Tour auf den Hochvogel

Er war als Zehnjähriger schon mit Nachbarn oben gewesen, hatte Tage lang davon erzählt und mit seinem Muskelkater geprahlt.

Das kriegte man nur, wenn man große Touren machte.
Wir, die jüngeren Brüder entdeckten dann, dass wir “ auch“ irgendwo oben gewesen waren und kamen „auch“ mit einem Muskelkater heim.

Die Mutter, war großzügig und behandelte uns alle mit selbst gepflückter, selbst angesetzer Arnika. Sein Leben lang blieb der Hochvogel, der Berg, mit dem Hermann, eine enge, innere Verbindung hatte. Für uns rückte dieser Berg in unerreichbare Höhen, die nur der Hermann, der Älteste, bezwingen konnte. Es kam der Krieg und die großen Veränderungen, die auch unsere Familie ins Trudeln brachte. Wir zogen aus dem sonnigen Untergschwend, bei Tannheim, in das Haus unserer Mutter, nach Ried bei Obermaiselstein. Nach Jahren hieß es immer noch, wenn es recht stark schneite:

„Hermann, stell Dir vor, wie es jetzt in Tannheim doba stuibt !“
Er gab dann stets zur Antwort:
„Und erst recht auf dem Hochvogel!“
Wir kannten und liebten diesen Spruch.

Mit 2593 Metern ist er einer der höchsten Berge im Oberallgäu, und wohl auch einer der schönsten Gipfel! Als Sechzehnjähriger musste Hermann als Flackhelfer einrücken.

Ob er je die Rohre seines Geschützes auf einen feindlichen Flieger gerichtet hat, glaube ich nicht, ich weiß nur, dass der brave, unverdorbene Bub mit den Kameraden Probleme hatte, die in der gemeinsamen Dusche, mit rauhen Scherzen an ihn herankamen.

Während die Familie im Allgäu blieb, suchte Hermann sein Glück zunächst in einer Musikschule, später als Krankenpfleger, lernte dann den Beruf des Gärtners, schaffte in unendlichen Abendschulen das Abitur und brachte es fertig, durch enormen Fleiß, das Volksschul-Lehrer-Examen zu bestehen und nebenbei auf einer alten Barockorgel, als Organist, den Gottesdienst zu begleiten.

Schon als Kind hatte er sich für Pfeifen und Register interessiert.
Bei jedem Urlaub im Allgäu, plante er, seine Jugendtour wieder einmal zu machen, aber irgendwie schaffte er es nicht.Trotzdem blieb der Hochvogel sein Lieblingsberg.

Auch eine nette Frau hatte er gefunden, die mütterlich und tatkräftig, dafür sorgte, dass seine Hemden gebügelt wurden, es kamen Kinder und ein vernünftiger Haushalt entstand.

Ein Reihenhaus im Grünen, rundete die Idylle des Nachkriegslebens ab. Hermann hatte aus eigener Kraft geschafft, was viele sich ihr Leben lang wünschen. Dann aber kam, der gemeinste und heimtückischste Feind des Menschen, der Krebs.

Er fiel ihn an, stieg in seine Blutkörperchen und nannte sich Anemie. Seine stille, zähe Ausdauer zeichnete Hermann wieder einmal aus.

„In mir ist für beide Platz, für mich und für den Krebs, ich muss damit leben, ich muss und kann mit der Krankheit leben!“ So hatte er mir geschrieben.

Ein starkes Wort.

Er nahm die Herausforderung an.Seine Ernährung stellte er völlig um, auf Körner und Pflanzen, er magerte ab, er wurde bestrahlt. Er biss auf die Zähne.

Er wies den grausamen Feind in die Schranken, zum Erstaunen der Ärzte, die seine Genesung als Phänomen betrachteten, ja, von einem Wunder sprachen!

Aber es blieben Folgen.

Was der Krebs nicht geschafft hatte, schafften die Gegenmittel, die Chemie und die Bestrahlungen.

Seine Stimme verkümmerte zu einem Krächzen, seine Halsmuskulatur, der Sitz der Lympfknoten, verkümmerte, seine Schultern, seine Arme hingen, kaum noch brauchbare Reste, einer früher stabilen Gesundheit, an seinem Rumpf.

Fast ein Skelett nur noch, durch Sehnen und Willen zusammengehalten,

…kam er eines Tages zu mir.:

„Tedor“, krächzte er,“ gehen wir auf meinen Berg, den Hochvogel?“

Ich wusste, was der Hochvogel ihm bedeutete.

„Ja, Hermann, der Hochvogel ist immer Dein Berg gewesen und wir gehen hinauf!“

„O mei „ dachte ich, „wie mach Ich das eigentlich“ ?

„ Klar,“ sagte ich,“ den packen wir!“

Ich versuchte einen Scherz zu machen und auch er zog die wächsernen Lippen zu einem Lächeln.

Irgendwo hatten wir beide einen dunklen Punkt gesehen… ein Problem ?..

Ich bin viel in den Bergen, ich habe auch schon Verletzte und Tote geborgen, heruntergebracht, aber hinauf?

Einen kranken Mann, abgemagert, ausgelaugt, von jahrelangen Schmerzen? Aber sehnige Beine hatte er sich, durch eisernes Training erhalten!

Und den Willen ! Den hatte er ganz sicher !

Also mit dem Auto zum Vilsalpsee, die Route, die er als Zehnjähriger gegangen war.
Sicherheitshalber , nahm ich einen Schlafsack in den Rucksack und eine lange Reepschnur.
„Hermann, ich möchte Dich anbinden, Du könntest ausrutschen, ich möchte Dich fangen können!“
„Nimm das Seil halt wie ein Lasso, wenn ich abstürze, kannst du mir ja eine Schlinge nachwerfen, wie ein Cowboy…….“

Der Humor klang hohl .
Ein Stock , oder zwei Stöcke , a la` Messmer hätten ihm helfen können.

Er konnte einen Stock nur schlecht halten.
„Die Finger können noch Akkorde auf der Orgel greifen, mehr ist nicht mehr……. langsame Lieder …„ Seine Stimme erstarb,

„ bind mich an Tedor.“

Ganz kleine Schritte.
Millimeterweise versank das Tannheimer Tal hinter uns.
Hermann legte seine Scheu ab.

Ich war jetzt nicht mehr der kleine Bruder, ich war der Bergkamerad.
Er ließ sich ziehen, halten, er vertraute mir.

Vertraute mir, dem Kleinen, dem er früher die Tränen abgewischt hatte, dem er den Nachttopf geleert hatte, den er gegen grössere Buben in Schutz genommen hatte.

Das Vertrauen gab mir Auftrieb, jetzt glaubte ich, dass wir es schaffen würden.
An der Vilsalp vorbei, unter dem Rauhhorn durch, zum Schrecksee.

Am Glasfelderkopf vorbei.
Wir beschlossen, nachdem wir immerhin, mit Pausen 9 Stunden gelaufen waren, im Luitpoldhaus zu übernachten.

Wir lagen in den kratzigen Decken nebeneinander, wie wir vor vierzig Jahren, unter alten Decken, in der Stube in Untergschwend bei Tannheim beieinander, in der Streue gelegen waren.

Hermanns Glieder waren überanstrengt, ebenso seine Gedanken überdreht, es war halt doch nicht irgend eine Tour, sondern der Hochvogel !

Eine Idee, eine Vorstellung, ein Berg, kann zum Sog werden, zum Muss, an das man sich klammert, kann zum Zielpunkt werden und wenn Du dann dieses Ziel nicht schaffst, das geht Dir dann echt an`s Mark!

Ein Rotweintrinker über uns, schnarchte gottserbärmlich.
Einmal tastete eine Hand nach mir,“ Bischt noch da Totz ?“
flüsterte es heiser.

„Totz“, hatte er mich manchmal genannt, er war immerhin 7 Jahre älter als ich.

Es freute mich, es war wie früher. Mit den ersten Sonnenstrahlen stiegen wir in einer Art Traumwandlerschritt aus der Hütte.

Andere strebten an uns vorbei, versuchten über unser Tempo zu scherzen, verstummten aber, wenn sie unter dem großen grauen Hut, das bleiche Gesicht wahrnahmen.

Der „kalte Winkel“ war wie ein Eiskessel , ein Begehen undenkbar ohne Steigeisen und ohne brauchbare Arme.

Also über die Kreuzspitze.

Wir machten eine Probe. Ich voraus. Seil über die Schulter, einholen, „Hermann, ganz kleine Tritte“ , ausruhen mit der Schulter anlehnen, wenn`s nicht anders geht, auch einmal auf den Knien.

„Keine Angst, I heb Di“!

Aber dann ist er mir doch abgerutscht, ein Tritt löste sich, er fiel gegen die Wand und schlitterte auf der linken Gesichtshälfte am Felsen entlang, rollte seitwärts im Seil hängend und stieß mit der wehrlosen Schulter auf……

Ich hielt fest, bis er sich beruhigt hatte, legte die Reepschnur über einen Felskopf und ging zu ihm. Ein schlimmer Moment für ihn. Er hatte seine ganze Hilflosigkeit zeigen müssen.

Eine Schürfwunde sah schlimmer aus, als sie war.

Ein Taschentuch und bischen Sprühpflaster erledigte das.

„ Kannst Du noch? Willscht Du noch ?“

Hermann sagte nichts, zuerst vermied er meinen Blick, dann blickte er nach oben, wo der Gipfel des Hochvogels wuchtig und stark am Himmel streifte.

Ich hatte Angst, ich hatte Schiss, er schafft es nicht.

Und ich war verantwortlich, für diesen Irrsinn, einen geschwächten,

kranken Mann, auf diese Höhe mit genommen zu haben.

Ich sah, dass er unsäglich litt, dass er jeden Moment aufgeben wollte.

„Weischt was, Hermann, wir sind schon so weit gekommen, weiter als Du geglaubt hast, wir machen eine Pause! „

Also Brotzeit.

Der Atem ging flach, mir war es nicht recht wohl, wenn ich ihn anschaute.

Der Rundblick hinüber zum Glasfelder Kopf, hinunter zum Giebelhaus, der steile Grat des Himmelhornes, der Schneck war einfach herrlich !

Es war ein traumhafter Herbsttag.

„Wolln` wir es nicht gut sein lassen?“

Sein starres Gesicht verzog sich, mit den Augen, mit den Kopf, deutete er zum Gipfel. Er schüttelte langsam den Kopf.

Ich glaubte ihm.

Er wollte den Traum, der ihm vielleicht über manche Unebenheiten in langen Jahren hinweggeholfen hatte, nicht preisgeben.

Er würde durchhalten.

Es gab noch viele Pausen.

Schokolade, Wasser, Traubenzucker, Schwarzbrot, ganz kleine Brocken.

Das Schlucken fiel ihm schwer, auch der Schlund war verbrannt und vernarbt..

Vorausgehen, Stand halten, Reepschnur ganz langsam einholen.

Immer wieder, langsam.

Am Nachmittag, als die Sonne im Westen dem Säntis nahe kam, waren wir auf dem Gipfel. Am Kreuz.

Der leidende Christus störte mich heut. Lieber hätte ich einen Sieger gesehen !

Ausgelaugt, ausgepumpt, aber oben !

Oben! Auf dem Hochvogel !

Hermann hatte gewonnen !

Er sackte in sich zusammen und schloss die Augen.

„Hoffentlich stirbt er mir jetzt nicht“ ging es mir durch den Kopf .

Obwohl:

Hätte man sich einen schöneren Tod vorstellen können ?

Auf einem Gipfel einschlafen ? Auf seinem Gipfel ?

Ich lehnte mich gegen seinen Rücken, versuchte ihm Halt zu geben, versuchte meine Reserven an ihn überzuleiten.. fasste ihn am Arm..

„Da nimm von mir…..“

Ich glaube an solche Sachen……..

Hermann kauerte lange , wie im Schlaf.

Dann öffnete er seine hellblauen Augen.

Ein Lächeln zog über sein Gesicht.

Ein wunderbares Lächeln , von innen heraus.

Er blickte rings um sich, er zog den ganzen Erdkreis in sich hinein, die sinkende Sonne, die Berge, die dämmerigen Täler, die violetten Schatten und dann traf sein Blick auf mich.

Dieser Blick aus den Augen meines Bruders, war Lohn für Jahre, war Lohn für ein Leben, für eine Tour,

Dank, Dank, Dank ! Sagte der Blick.

Noch heute steigt mir ein Klotz in den Hals, wenn ich an diesen Augenblick denke!

Er sagte nichts.

Wozu auch !?

Wir biwakierten. Hermann im Schlafsack, ich unter einem Anorak.

Felsen sind nachts immer doppelt so hart und kalt , wie am Tag.

Die Stunden sind endlos.

Kaum stieg das Morgengrauen aus dem Himmel, brachen wir auf.

Im Luitpoldhaus gab es eine ausgiebige Rast.

Heißen Tee, Kaffee.

Der Bene, bekannt aus meiner Bergwachtszeit, schaute mich und meinen Begleiter an:

„I blieb in der Nähe, wenn Dir abstieget.“

Und er nahm sich Zeit, der Bene, mit noch zwei Bergkameraden war er immer so 100 m hinter uns, und interessierte sich für Blumen und Kräuter.

Hermann tastete sich, wieder an der Schnur, vorsichtig zu Tal und endlich erreichten wir den Bus am Giebelhaus.

Ich glaube, er hat in diesen drei Tagen so viel geleistet, wie ein Extremkletterer im Himalaja .

Zwei Tage blieb er bei mir daheim, im Bett.

Wir gaben ihm Fleischbrühe und Haferflocken.

Er hatte den Hochvogel, seinen Hochvogel bezwungen und ….. er hatte den Krebstod besiegt !

Bei einer Routineuntersuchung erstickte er später im Krankenhaus, an Erbrochenem.

Die Nachtschwester hatte kurz vorher noch zu ihm geschaut.

Sein Körper dient, seinem Wunsch entsprechend, der Krebsforschung.

Aber seine Seele ist ganz sicher, oft oben am Hochvogel.